Predigt am 22. Sonntag nach Trinitatis - Pfarrerin Esther Böhnlein

Gnade sei mit euch und Frieden, von Gott, unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.  

Liebe Gemeinde,  

in der Grundschule scheint alles noch so einfach zu sein. Wenn ich montags in der ersten Pause mit einer Klassenlehrerin gemeinsam Aufsicht habe, dann passiert nicht selten Folgendes: Zwei Kinder haben Streit und kommen – im besten Fall – irgendwann damit zu uns. Dann fragen wir, was denn passiert sei und am Ende geht es meistens so aus, dass sich beide Kinder beieinander entschuldigen. Leicht fällt es ihnen natürlich nicht, aber trotzdem bekommen sie ein „Es tut mir leid“ heraus. Der Streit ist erledigt, es kann weiter getobt werden.  

Je älter man wird, desto komplizierter wird das mit dem Streiten und der Vergebung. Ich denke daran, dass einen saftigen Streit auch mal mehr als zwei Personen betreffen kann. Ich denke daran, dass Streitinhalte komplexer werden, wenn es um verletzte Gefühle oder um Geld geht. Ich denke daran, dass sogar mehrere Generationen unter einem Streit leiden können – Shakespeares Romeo und Julia sind letztlich deswegen gestorben, weil ihre Familien miteinander im Streit lagen. Keine einfache Sache ist das und wesentlich komplizierter als ein Streit am Montagmorgen auf dem Pausenhof.  

In dieses Thema hinein sprechen die Worte unseres heutigen Predigttextes, er steht im Neuen Testament im 1. Brief des Johannes im zweiten Kapitel:  

Das schreibe ich euch, ihr Kinder: Eure Schuld ist euch vergeben durch Jesus Christus, in dessen Namen ihr getauft seid. Das schreibe ich euch, ihr Alten: Ihr habt den erkannt, der von Anfang an gegeben war. Das schreibe ich euch, ihr Jungen: Ihr habt den Bösen besiegt. Ich habe es euch schon geschrieben, ihr Kinder: Ihr habt den Vater erkannt. Ich habe es euch schon geschrieben, ihr Alten: Ihr habt den erkannt, der von Anfang an gegeben war. Ich habe es euch schon geschrieben, ihr Jungen: Ihr seid stark. Das Wort Gottes wirkt in euch. Ihr habt den Bösen besiegt. (1. Johannes 2,12-14) 

I. Im Streit mit mir selbst  

Liebe Gemeinde,  

es fängt an der eigenen Nasenspitze an. Vor geraumer Zeit habe ich mal den Spruch gelesen: „Ich hätte gern mehr Zeit dafür die Person zu sein, die ich gern sein möchte.“ So beginnt er, der Streit mit sich selbst. Denn das Idealbild von mir selbst, das sieht seltsamerweise immer ganz anders aus als die Realität. Fast selbstverständlich einige Kilo schlanker. Sportlicher. Belesener, gebildeter. Mit spannenderen Hobbies. Tolle Kochkünste, na klar. Ein wunderbarer Gastgeber, der es weiß, seine Gäste zu verzaubern. Musikalisch, charmant, sozial engagiert und mit vielen Freunden und Freundinnen.  

Wie gern wäre ich doch nur ein bisschen die Person, die ich sein möchte – und schon beginnt er, der innere Streit mit mir selbst. Mach doch mal dies, lass doch mal das. Warum kannst du das nicht? Anstrengend ist das und schmerzhaft. Die eigenen Schwächen zu sehen macht es mir schwer, mich trotzdem so zu mögen, wie ich bin. Weil der Mangel immer größer wirkt als das, was da ist. Als das, was ich kann und bin und was mich auszeichnet. „Ihr seid stark“, schreibt Johannes, „ihr habt den Bösen besiegt.“ Aber da ist kein zweites Ich, dem ich selbst auf dem Pausenhof die Hand reichen kann. Da braucht es die Stimme von außen, von einer Freundin, Cousin, Bruder, Ehefrau oder einem anderen Herzensmenschen der sagt: „Ich mag dich, wie du bist.“ oder „Bleib so, wie du bist.“, um zumindest eine innere Waffenruhe einkehren zu lassen. Und dann ist da noch die andere Stimme. „Ihr seid stark“, schreibt Johannes, „ihr habt den Bösen besiegt.“ Und warum? „Eure Schuld ist euch vergeben durch Jesus Christus, in dessen Namen ihr getauft seid“, schreibt er. Mit der Taufe ist da einer, der sich – wie die Lehrerin auf dem Schulhof – runterbeugt und sagt: „Hey, es ist doch okay. Du musst keinen Krieg gegen dich selbst führen. Ich sehe deine Augenringe, ich weiß, wieso du nachts wach liegst. Ich spüre deine Schmerzen in der Brust und die Enttäuschung, die du mit dir rumträgst. Und ich find dich ehrlich gut, so wie du bist.“  

II. Im Streit mit dem anderen  

Es fängt an meiner eigenen Nasenspitze an. Wenn ich unausgeglichen, hungrig oder im Stress bin, dann passiert es schnell: Ich sage etwas zum anderen, was ich sofort danach eigentlich bereue. Ich werde ungerecht oder unfair, ich reagiere über – aber es ist immer so wahnsinnig schwer, über den eigenen Schatten zu springen und wieder dahinter zurückzukehren. Zwischenmenschliche Verletzungen passieren andauernd. Im Kleinen, im Alltäglichen. In einer unbedarft formulierten WhatsApp Nachricht, mit einem vergessenen Geburtstag oder einer unachtsam ausgesprochenen Wertung. Und schon beginnt er, der Streit mit dem anderen. Nicht selten wird er größer, bläht sich auf und nimmt allen Raum ein. Beim Streit über das Erbe, über Geld, über versäumte Worte oder vorenthaltene Liebe. „Ihr seid stark“, schreibt Johannes, „ihr habt den Bösen besiegt.“ Im besten Fall ist da einer auf dem Pausenhof des Lebens, dem ich die Hand reichen kann. Dem ich sagen kann: Das war echt doof von mir. Es tut mir leid.“ Ja, dafür braucht es die Stärke, von der Johannes schreibt. Aber auch Mut und Selbstliebe, um überhaupt über den eigenen Schatten springen zu können. Da ist es gut mit Gott einen hinter sich stehen zu haben, der mir selbst diese Stärke zuspricht. 

Ihr seid stark“, schreibt Johannes, „ihr habt den Bösen besiegt.“ Aber da ist vielleicht trotzdem keiner, dem ich die Hand reichen kann. Weil zu viel passiert ist. Weil einer vielleicht gar nicht zur Versöhnung bereit ist oder bereit sein kann, weil psychische Erkrankungen das verhindern. Weil es für die eigene psychische Gesundheit besser ist, einen Bogen um die andere Person zu machen und sich auf die andere Seite des Pausenhofs zu verziehen. „Ihr seid stark“, schreibt Johannes, weil auch das kein Zeichen von Schwäche ist, kein Makel im Leben. Sondern weil es heißt auf sich selbst aufzupassen und Grenzen zu ziehen, aber im gleichen Zug das Herz nicht hart werden zu lassen. Es macht einen Unterschied aus, ob ich den Hass in meinem Herzen groß werden lasse, ihm ein Zimmer zur Verfügung stelle und gut pflege. Oder ob ich – wenn es irgendwie möglich ist – mich in Vergebung übe, auch dann, wenn Versöhnung nicht möglich ist. Wenn ich in meinem Inneren sage: Ich vergebe dieser Person, ohne die erlittenen Verletzungen zu relativeren. Ich vergebe, ohne dass ich mich mit dieser Person je aussöhnen kann – aus welchem Grund auch immer. Und Johannes schreibt: „Ihr habt den Bösen besiegt.“  

III. Weltpolitischer Streit 

Irgendwann einmal hat es bei einer anderen Nasenspitze angefangen. Der Streit zwischen Menschengruppen ist so alt, wie die Menschheit selbst. Streitigkeiten, die ganze Landstriche, Völker, Generationen umfassen. Die nicht Halt machen vor Mord und dem Verbrechen an der Menschheit selbst. Hass und Ideologie, Macht und purer gegenseitiger Abscheu. Da steht keiner mehr auf dem Pausenhof und mahnt dazu an, sich gegenseitig die Hand zu geben. Weil es keinen Pausenhof mehr gibt, sondern Bombenalarm, Schutzbunker, überlastete Krankenhäuser – weil Krieg herrscht, zwischen den Menschen. Weil Menschen applaudieren, weil andere Menschen sterben. Keine Stärke der Welt führt dazu, dass wir das einfach aushalten können. Es tut weh und es ist schmerzhaft zu sehen, was aneinander schuldig werden in der Konsequenz bedeutet. Und es macht ratlos, weil weder einfache noch schnelle Lösungen in Sicht sind und es vielleicht auch ganz gut ist, dass aus 81 Millionen Bundestrainern keine 81 Millionen Nahost Experten und Expertinnen werden.  

IV. Es wird eine Welt ohne Schuld geben   

Drei Dimensionen von Schuld und manchmal auch von Vergebung. Im eigenen Inneren, im Zwischenmenschlichen, im Weltpolitischen. Es bleibt ein schmerzhaftes Thema. Hinterlässt Spuren und Narben in Biografien, in Familien und auch in ganzen Volksgruppen. Und dennoch schreibt Johannes: „Das schreibe ich euch. Das Wort Gottes wirkt in euch.“ Welches Wort Gottes er wohl meint? „Fürchtet euch nicht“, ist eines der häufigsten Sätze, die Gott oder seine Boten in der Bibel an uns Menschen richtet. Ich will es ernst nehmen. Denn Johannes schreibt ja eben auch „eure Schuld ist euch vergeben durch Jesus Christus, in dessen Namen ihr getauft seid“. Ich lese es als Versprechen. Mit der Taufe verspricht Gott uns, dass es eine Welt ohne Streit, ohne Krieg, ohne Tränen und Schmerz geben wird. Dass Gott uns in diese Welt hineinnehmen wird, weil er es uns in der Taufe versprochen hat. Dass das Abendmahl ein Vorgeschmack genau darauf ist, weil wir ohne Streit und Hass gemeinsam Brot und Wein miteinander teilen. Es ist ein Versprechen, dass allumfassende Versöhnung in Gott möglich ist. Ein Versprechen, dass Scherben neu zusammengesetzt ein anderes Bild ergeben. Ein Versprechen, dass Gott uns das zusammen mit sich zutraut:  

Ihr seid stark. Das Wort Gottes wirkt in euch. Gepaart mit den Worten Paulus aus dem Römerbrief: Lasst euch nicht vom Bösen überwinden, sondern überwindet das Böse mit Gutem. Amen.  

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.